Es ist nachts um 23.30 Uhr, als es bei uns zu Hause klingelt. Früher als erwartet denke ich und gehe hinaus, um unseren Gast zu begrüssen. „Bonsoir Monsieur Yersin, bienvenue!“. “Bonsoir Monsieur, merci!”. “Vous parlez l’allmend, Monsieur Yersin, n’est-ce pas?“. „ Oui, oui, pas de problème, Sie können gerne mit mir Deutsch sprechen.“ Ich bin erleichtert, eine gemeinsame Sprache zu haben. Denn viel weiter, dies wird meinen ehemaligen Französischlehrer Robi Kuster wenig freuen, hätten meine „Franz“ nicht gereicht. So gehen wir ins Haus, nehmen Platz in der Wohnstube, wo sich auch Marion, meine Frau, zu uns gesellt. „Darf ich ihnen einen Gin Tonic anbieten? Den mögen sie doch, wenn ich richtig informiert bin?“ Und bevor Herr Yersin sein Erstaunen in Worte fassen kann, sagt Marion mit einem Lachen: „Für das Ausspionieren unserer Gäste ist mein Mann zuständig.“ Stimmt so! Der Name Yves Yersin sagte mir zunächst nicht viel. Kurz googlen und ich erinnerte mich wieder, dass Yves Yersin der Schweizer Filmregisseur ist, der 1979 „Les petites fugues“ (Kleine Fluchten) gedreht hatte. Einer der erfolgreichsten Spielfilme der Schweizer Filmgeschichte. Und dank Google erfuhr ich auch, dass er Gin Tonic mag. Hier war er also, Yves Yersin, und ich freute mich, fast wie der Knecht Pipi im Film „Kleine Fluchten“ auf seinem Motorrad , dass er zur Filmpremiere seines neusten Films „Tableau Noir“ persönlich nach Wellington gekommen ist und für ein paar Nächte bei uns zu Hause logiert. Das Eis ist gebrochen, der Gin Tonic serviert, und während wir plaudern, fällt mir auf, dass Herr Yersin oft, ungewohnt oft, mich anspricht und mit Marion ab und zu höflich in Augenkontakt steht. Tja, ich wusste es ja schon immer, dachte ich, diesen Kulturmenschen sind Rang und Titel nicht wichtig. Hier ist Mann auch als Begleitperson jemand. Es schmeichelt mir, dass Herr Yersin sich so intensiv mit mir unterhält. Gut 20 Minuten dauert der Smalltalk. Und dann kommt sie. Total unerwartet. Frontal an mich gerichtet. Sozusagen die Königsfrage der Nacht: “Sagen Sie mir doch, Herr Krupski, wir hören ja in der Schweiz wenig von Neuseeland. Mit welchen Themen ist die Schweizer Botschaft hier in Wellington denn zur Zeit beschäftigt?“ „Herr Yersin“, entgegnet Marion, „ ich sehe, Sie haben nicht gegoogelt , denn diese Frage müssen Sie mir stellen. Ich bin die Botschafterin!“. Während Marion und ich uns über den Irrtum amüsieren, ist es Herrn Yersin furchtbar peinlich, kann kaum glauben, dass ihm ein solcher Fehler unterlaufen ist und beschimpft sich mehrfach als „ alten Macho.“
Vergiss dein Kulturmenschen-Geschwafel. Eine simple Verwechslung, wie sie auch schon vorgekommen ist. Ausgelöst durch stereotypes Denken. So nennt man die Rollenmuster, die sich im Künstlerhirn genauso festgesetzt haben wie in irgendeinem Gehirn. Und doch ist heute etwas anders als sonst. Dieser ältere Mann, welcher mir gegenüber sitzt, ärgert sich über seinen Lapsus und kann kaum glauben, dass ihm ein solcher Irrtum passiert ist. Er will verstehen, stellt Fragen, ist neugierig. Und kurz bevor es für uns alle Zeit wird ins Bett zu gehen, kommt der Satz, über welchen ich noch lange nachdenken muss: „Heute Abend bin ich stolz auf die Schweiz. Ich bin stolz, einer solch modernen Schweiz, wie ich sie heute Abend kennenlernen konnte, anzugehören“. „Und wissen Sie,“ fährt er fort, „wir Kulturschaffenden sind gewöhnlich nicht stolze Schweizer, und wenn wir es auch wären, wir würden es nie sagen, schon gar nicht öffentlich. Das ist bei uns verpönt. „
Nach etwas Zaudern teile ich das Kompliment mit Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, und mache es unschweizerisch, weil unbescheiden, öffentlich. Weil mich hat‘s gefreut.
Auf Wiedersehen Yves. War schön Dich hier zu haben. Au revoir, Monsieur l,Ambassadeur, lacht und steigt ins Auto.
Es grüsst aus der Filmmetropole Middle – Earth
Waldemar Krupski