Kein Heimweh?

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Wie nur ist es möglich, dass der da zwei freie Sitze neben sich hat, während wir Schulter an Schulter zusammengepfercht sind? Ich kann die fragenden, ratlosen, vielleicht auch etwas neidischen Blicke meiner Mitpassagiere im fast vollbesetzten Flug IG 0880  von Dakar nach Milano verstehen. Das Leben ist nicht gerecht. Das weiss ich nicht erst, seit ich in Dakar lebe.

Während ich schreibe, sitze ich im Flieger “nach Hause”. Ich freue mich auf meine Schwester, auf meinen Bruder, auf Freunde und Bekannte im Dorf. Ich freue mich auf ein “Hoi, wiä ghats?” Ich freue mich auf die Adventsbeleuchtung. Auf die „Schlurgäbar“. Und trotz all dem vielen Freuen, könnte ich eben so gut in Dakar bleiben. Es zieht mich nicht so stark wie früher „nach Hause“.

Ich frage mich oft, was es denn ausmacht, dass ich hier von Anfang an so gerne lebe. Hier, wo ich auch nach vier Monaten keine Bankkarte besitze? Und wo ich, mangels dieser Bankkarte, einen halben Tag  Zeit einplane, um Bargeld zu besorgen? Wo ich drei Monate kein Brot backen kann, weil der Backofen nie, wie hoch und heilig versprochen, am nächsten Tag geliefert wird.

Hier, wo in der Regenzeit die Gipsdecke in der Küche herunterfiel, weil sie der Feuchtigkeit nicht mehr standhielt. Wo fast jedes Fenster undicht ist und jetzt in der Trockenzeit anstelle des Regenwassers der Sand seinen Weg in Wohn- und Schlafzimmer findet. Wo an jeder zweiten Strassenecke der Gestank von Verwesung in der Luft liegt. Wo überall Müll herumliegt und  je nach Wohnquartier das Gefühl aufkommt, auf einem einzigen grossen Abfallberg zu stehen. Ja, es fällt mir leicht genügend Gründe zu finden, warum ich allen abraten kann, um Gotteswillen nur ja nicht nach Dakar zu kommen. Alles hier ist Inschahlla, wenn Gott so will. Alles hier ist scheinbar ausserhalb der Macht des Individuums.  Und trotzdem lebe ich hier verdammt gerne, im Senegal, in Dakar.

Was macht es aus, dass mir hier so wohl ist? Dass ich mich hier so wach fühle? Vielleicht ist es das unverwechselbar Schlurfen unserer Gouvernante Constance. Gemächlich, immer im gleichen Rhythmus, monoton. Schlurf, schlurf. Fast alle Frauen schlurfen hier… Vielleicht ist es die krachende Musik aus den schlechten Lautsprechern, die man überall hört und die trotz des Schepperns alle Füdlis in Bewegung setzt. Vielleicht sind es die Kühe, die auf der Verkehrsinsel mitten im Chaos der Autos, Eselwagens und Lieferwagen das letzte Gras fressen. Sie stören niemanden und werden von niemandem gestört.

Ich lerne hier ständig etwas Neues. Ich freue mich, wenn unsere Kinder sagen, „Wir brauchen keinen Fernseher, das Kino findet hier auf der Strasse statt.“ Auch wenn sie fünf Minuten später bereits wieder mit den Handys in die digitale Welt abtauchen. Das ist kein Gegensatz mehr. Ich fürchte auch nicht mehr das Schlimmste, wenn der Gärtner mich ruft und sagt „Wir haben ein Problem”. Meist ist es mit dem passenden Werkzeug und einem Handgriff schnell gelöst. Gelacht wird viel. Geflucht wird nie. Das gehört sich nicht!

Ganz sicher hat die Geschichte über die zwei freien Sitzplätze neben mir im Flugzeug etwas damit zu tun, warum mir das Leben in Dakar so gut passt. Das Leben, in dem so vieles unvorhersehbar erscheint. Alltagsgesetze und Regeln, die für uns „Toubabs“ (Weisse) nicht durchschau- und erklärbar sind, bestimmen jeden Tag. Die Geschichte zu meinen Sitzplatz: Beim Einchecken frage ich, ob ich einen Sitz beim Notausgang haben könne. “Ja, kein Problem“, sagt die Dame, „kostet hundert Euro extra.“ „Hundert Euro extra? C’est très cher!“. Während ich meine Überraschung mit einem vorgetäuschten  Ohnmachtsanfall zu untermauern versuche, wird meine Bordkarte bereits ausgedruckt. „Sitze ich beim Notausgang?“, frage ich nach. Nein, kommt die Antwort. Aber ich habe doch noch extra… Die Dame lässt mich nicht ausreden. „Donnez-moi votre billet!“, sagt sie bestimmt. Nimmt es und zerreisst es. Ok, und was jetzt?, denke ich. Will sie jetzt, dass ich hundert Euro bezahle? Es folgt ein Blick von ihr auf den Bildschirm, ein kurzes Gespräch mit der Dame am Schalter nebenan. Sie habe einen trockenen Hals, meint sie. Ob ich nicht so nett sei und ihr einen Jus d’Orange von der Bar gegenüber hole? Ich erfülle ihr den Wunsch. Und kaufe ihr noch ein Stück Kuchen dazu. Als ich zurückkomme und ihr den Jus und Kuchen überreiche, hält sie mein neues Ticket in der Hand. Sie lacht und  freut sich sehr. Ich mich auch - über die Sitzreihe 30 D/E/F. 

Fröhliche Weihnachten und ein gesundes neues Jahr!

Waldemar Krupski