Kolumnen Dakar — WAKR Online-Coaching

Waldemar Krupski

Die Zukunft Afrikas zu Gast

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Es ist die dritte Plastikflasche, die ich innerhalb von ein paar Tagen in unserem Garten auflese. Achtlos wurde sie weggeworfen. Genauso achtlos wohl, wie sie gekauft wurde. Sie, die Wasserflasche, 25cl klein. Glaube ich der Aufschrift, handelt es sich um „Eau Mineral Naturelle des Alpes“, wird produziert in Frankreich und kostet hier im Laden 600 CFA. Das entspricht in etwa einem Schweizer Franken. Oder dem Stundenlohn eines schlecht bezahlten Bauarbeiters hier in Dakar. Weggeworfen wurde die Flasche von unseren Gästen, den Zwillingen William und Brandon, Teilnehmer des Schüler-Basketballturniers unserer Schule. Wohnhaft sind die beiden 17-jährigen in Kamerun. Wir sind eine von vielen Gastfamilien, welche den ca. 200 Spielern und Spielerinnen vier Tage Gastrecht gewähren.

Wie zwei wandelnde Werbesäulen sehen sie aus, als sie am Mittwoch spät abends im Schlepptau von unserem Jüngsten bei uns zu Hause eintreffen. In ihrem Auftritt vergleichbar mit unseren Spielern der Fussball-Nati, einfach ohne Tattoos. Und ohne selbst verdientes Geld, nehme ich mal an. T-Shirt: ein Monatslohn unserer Haushälterin. Schuhe: drei Monatslöhne unseres Gärtners. Shorts: ein Monatslohn einer lokal Angestellten. Rucksack: ein halber Jahreslohn eines Bauarbeiters. Manieren? Keine! Wie zum Teufel kann man Anstand und Respekt lernen, wenn die Eltern nicht einmal die Bedeutung dieser Wörter kennen? Wenn diese Jungen von Kindermädchen erzogen werden, die jeden Tag um ihre Existenz bangen, weil Sohnemann nicht die richtige Schokolade zum Dessert kriegt oder der Strom vom Fernseher gekappt werden muss, weil schon längstens Zeit für‘s Bett ist und niemand auf sie hört.

Nein, nicht nur die Kindermädchen kuschen vor diesem Menschenschlag. Und sie sind auch die letzten, die ich dafür verantwortlichen machen würde. Nein, es sind wir alle. Keine Privatschule hier in Dakar könnte überleben, würde die Schulleitung es wagen, Kinder und Jugendliche lokaler Potentaten aus der Schule zu werfen, weil sie die Leistung nicht bringen oder disziplinarisch auffallen. Oft geht beides einher. Ja, ich war stinkesauer, als mich der eine der Brüder früh morgens warten liess, bis es ihm genehm war, aus der Dusche zu kommen. Und oh nein, es war nicht diplomatisch, wie ich ihn wissen liess, dass er jetzt noch genau drei Minuten Zeit hat, bis er im Auto sitzt. Er hat`s geschafft. Bevor er einsteigen durfte, musste er mir noch kurz zuhören: „Erstens:  Hier bin ich der Boss. Hier wartest du auf mich und nicht umgekehrt. Ich bin nicht dein Chauffeur! Klar?“ - „Yes, Sir“. Zweitens: „Bevor ihr den Kühlschrank öffnet, euch mit Schokolade oder was auch immer bedient, fragt ihr mich. Klar?“ - „Yes“. „Drittens: Zu Abend essen wir gemeinsam am Tisch, und viertens: Wenn euch die Spielregeln hier nicht gefallen, könnt ihr euch eine andere Familie suchen, bevor ich euch rauswerfe. Klar?“ - „Yes, Sir“. So, die Rollenkonfusion ist für die verbleibenden drei Tage geklärt.

Als ich gleichentags von der Schule nach Hause fahre, werde ich von der Gendamerie angehalten und aufgefordert, auf dem Gehsteig zu warten. Ich weiss, was jetzt  kommt. Es passiert mir hier alle paar Tage. Zum Glück kann in diesen Minuten oder manchmal auch Viertel- oder halben Stunde niemand meine Gedanken lesen. Irgend ein ganz wichtiger Mensch, meist männlich, wird jetzt von zehn BMW Motorrädern, fünf Lincoln Limousinen und x PWs,  begleitet von blauen und roten, heulenden Sirenen Richtung Regierungspalast hofiert. Die Senegalesen erdulden mit stoischer Gelassenheit, dass sie wegen diesem völlig überflüssigen Konvoi eine halbe Stunde bei Stillstand im Auto sitzen müssen. Mir gelingt diese stoische Haltung leider nicht. Im Gegenteil, doch die Gedanken behalte ich besser bei mir.  Wissen Sie, was mich wirklich traurig und hoffnungslos stimmt? William und Brandon, die bei uns zuhause gerade ihren Plastikabfall im Garten verteilten, sind ein Teil von Afrikas Elite von morgen!

Waldemar Krupski

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Bitte um Hilfe

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«Boot mit Migranten vor der Küste Mauretaniens gesunken, mindesten 57 Migranten ertrunken.» Das lese ich in der NZZ vom 5. Dezember 2019. Es ist nur eine Randnotiz. Einen Tag vor diesem Unglück erreichte mich folgende eMail - für die Übersetzung habe ich das Programm Deepel.com gewählt. Ich meine, es trifft die gewählte Sprache recht gut:

Bonjour Monsieur Waldemar

Das Thema meines heutigen Briefes betrifft meine aktuelle Situation. In einer prekären beruflichen Situation kann ich nicht über die Runden kommen. Mit meiner Frau und meinen Kindern tue ich mein Bestes, um dorthin zu gelangen, während ich an Sie schreibe ich bin ohne Arbeit und ohne Geld.
Aber hier im Senegal kann ich trotz all der Bemühungen, die Sie unternehmen, um mein Ziel zu erreichen, kein Berufsleben als Elektriker finden.
Ich denke daran, das Land zu verlassen, um mein Glück in Europa zu versuchen.
Deshalb möchte ich Sie um Ihre Hilfe bitten, um meine Situation zu ändern. In Erwartung einer möglichen Antwort von Ihnen, erhalten Sie bitte meine herzlichsten Grüße.

«Nein Moustapha, mach nur das nicht», ist mein erster Gedanke. «Es wird auf die eine oder andere Weise dein Untergang sein.» Die verzweifelte Drohung in seiner eMail steht stellvertretend für die fatale Entscheidung, die zigtausend Senegalesen treffen, wenn sie beschliessen, ihr Glück in Europa zu suchen. Ist die Reise einmal begonnen, hat Moustapha nichts mehr zu verlieren. Auch nicht sein Leben. Zu gross ist die Schande, mit leeren Händen zurück zu kommen. Schliesslich hat die ganze Verwandtschaft ein paar Batzen dazu beigesteuert, in der Überzeugung, dass es ihnen allen bald besser gehen wird. Migranten von hier, legal wie auch illegal ausgewanderten, ist gemeinsam, dass sie hier im Senegal dem unteren «Mittelstand» angehören. Einer Minderheit, welche die Grundschule besuchten, lesen, schreiben und rechnen können. Die Hälfte der Bevölkerung kann das nicht!  Kennengelernt habe ich Moustapha vor knapp zwei Jahren. Er wurde mir als Elektriker empfohlen. In unserem Haus installierten wir gemeinsam unter anderem eine «Sicherheitsanlage» mit vier Kameras, einem Bullauge, Schockbeleuchtung und Alarmhorn. Dass die Kameras und das Bullauge Atrappen sind, ist ein gut gehütetes Geheimnis von Moustapha und mir. Selbst Hauswart Tanor, der Vater von Mohammed Waldemar, weiss nichts von den vorgetäuschten Kameras und putzt die Linsen zuverlässig regelmässig.  Als ein Freund von mir im Süden Senegals, in der Casamance, ein Haus baute, nahm Moustapha das Arbeitsangebot dankbar an. Er war noch nie auf einem Schiff, war noch nie gereist und dementsprechend nervös vor der langen Schiffahrt in die abgelegene Region. 3 Monate später kam er stolz und glücklich zurück. In der Hoffnung, dass es hier irgendwie weitergehen würde. Es ging weiter, wenn auch zaghaft. Auch dank einem Flyer, welchen wir unter die Leute brachten. Den gleichen Flyer habe ich, als Reaktion auf Moustaphas eMail am gleichen Tag an Botschaften, NGO, Freunden und Bekannten gesendet. Über 250 Empfänger kamen so zusammen.

Gestern Abend die erste kleine Erfolgsmeldung: Moustapha hat einen ersten Auftrag erhalten. Er freut sich, bedankt sich beim Allmächtigen und mir, dass sein Wunsch in Erfüllung ging. Und ich freue mich, dass ich vielleicht ein kleines Stück dazu beitragen konnte, dass er sich in der Not nicht entscheidet, eine schlimme Dummheit zu begehen, die ihn auf die eine oder andere Art sein Leben kosten kann.

Ich wünsche eine glückliche, besinnliche Adventszeit

Waldemar Krupski

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Kalter Entzug

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«Jetzt schalt endlich diese verdammte Playstation aus! Dü bisch ä richtigä Junkie, Nikolai». So hat es vor wenigen Tagen bei uns zu Hause getönt. «Du musst gar nichts sagen, du bist auch ein Junkie» entgegnet der 14-Jährige, der mit 188 cm Körperlänge aussieht wie ein 16-Jähriger und inzwischen auch gerne so vehement diskutiert, wie seine älteren Geschwister. «Hallo, ich bin dein Vater, nicht ein Junkie!» - «Ja, schon, aber du trinkst und rauchst dafür jeden Abend. Und wenn ich ein Playstationjunkie bin, dann bist du ein Zigaretten- und Bierjunkie. Das kannst DU nämlich nicht lassen!»

Gut pariert, mein Sohn, denke ich, denn Unrecht hat er nicht. Und ich sehe vor meinem geistigen Auge meine DNA mit torkelnden und qualmenden X und Y Chromosomen. Sie rufen mir zu: Vorsicht, erhöht suchtgefährdet. Ich fühle mich also gewarnt. Ich spüre auch Nikolais strafende Blicke, sieht er mich abends rauchend und biertrinkend draussen auf der Terrasse. Meist schiebe ich mein Laster auf, bis er zu Bett geht. Ausser freitags und samstags, da dauert es mir zu lange. Taktisch geschickt hat mein Sohn mit seinem Gegenangriff auf den Mann gespielt und, alle Achtung, meine Achillessehne getroffen. «Ok, ab morgen für mich sieben Tage kein Alkohol und keine Zigaretten. Für dich keine Playstation und keine Spiele auf dem Handy. Machst Du mit?» Nikolai zweifelt zuerst an meiner Entschlossenheit. «Im Ernst?» - «Todernst», entgegne ich. «Machst du nicht mit, dann habe ich wohl nicht ganz unrecht mit meiner Benennung. Jetzt ist auch er gefordert. Sich kampflos als spielsüchtig bezeichnen zu lassen, ist für ihn zum Glück kein gangbarer Weg. «Ok, ab morgen gilt’s ernst» sagt’s, und setzt sich hinter die Playstation.

Die ersten zwei Tage haben wir dann ohne nennenswerte «Entzugserscheinungen» zurückgelegt. Nikolai sass abends mit uns unaufgefordert länger am Tisch und ich ging etwas früher ins Bett als normalerweise. Am dritten Tag erhielt ich nachmittags von Nikolai eine SMS. Habe auf dem Handy in der Mittagspause 10 Minuten gespielt, weil ich unsere Abmachung vergessen habe. Habe ich jetzt verloren? Antwort: Nein, hier gibt es keine Verlierer. Keep going! Pech gehabt Niki, es geht weiter. Am Abend meint er etwas genervt, dass es ihn dünkt, mir mache das nichts aus, dass ihn das überrasche und dass er finde, dass ich morgens auch keine Espresso mehr trinken dürfe. Und warum ich überhaupt, wennschon, nicht ganz aufhöre mit dem Rauchen und Biertrinken? «Weil ich keine Lust habe. Weil ich mich täglich auf die zwei, drei Zigaretten am Abend und das eine plus andere Bier freue.» Und vielleicht auch, weil ich noch einer der Letzten bin, die in meinem Umfeld rauchen. Wir werden alle so langweilig gleich. Mit Tattoos und guten Manieren. Es fällt mir leicht, dir das zu sagen, weil keines von euch Kindern raucht, trinkt oder andere Drogen konsumiert. Ganz ehrlich, ich hätte grosse Mühe, wenn eines von euch rauchen würde. Ich glaube, dann würde ich es sein lassen. Aber ich hoffe ich muss es nie beweisen.

Am sechsten Tag, einem Samstag, habe ich schlapp gemacht. Ich sagte Niki, dass ich am Abend ausgehen werde. «Aber nichts trinken und nichts rauchen, ok?» Nein, nicht ok, denke ich. Ich gehe fast nie aus. Und ausgerechnet heute mit einer raren Spezies, die gerne raucht, Bier und Wein trinkt. Und auf einmal werde ich selbst zum Teenager. «Lass uns doch eine Pause machen heut Abend», höre ich mich zu meinem 14-Jährigen sagen. «Und nächste Woche ab Montag dann zwei Tage dranhängen». Ich muss ihn zweimal bitten, bis er meine Steilvorlage annimmt, am Samstagabend Playstation zu spielen. Die Verlockung, mich herausfordern zu können, war gross genug für seine Abstinenz. Für meine Sucht habe ich ihn seine Vorsätze hinwerfen lassen. Am Ende habe ich einen schönen Abend verbracht, für mich wirklich schöner als mit Mineralwasser und Tee. Aber wenn ich ehrlich bin, jetzt wo ich diese Zeilen schreibe, bedaure ich, dass ich nicht angeben kann, es zu Ende gebracht zu haben. Und Nikolai ein erwachseneres Vorbild gewesen zu sein. Ich glaube, ich kriege eine zweite Chance. Es war wohl nicht unser letzter kalter Entzug.

Herzlich aus dem warmen Dakar

Waldemar Krupski

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Mast und Schotbruch, aber lieber ohne mich

Mast und Schotbruch, wakr coaching

«Auf was freust du dich am meisten, wenn wir wieder an Land sind?» fragt mich Marion. «Dass wir an Land sind», antworte ich kurz. Wir sind eben im Hafen von Mindelo, Kapverden, angekommen. Eine Woche haben wir auf dem Segelschiff « Fleur de Passion » (www.omexpedition.ch) verbracht. Sind mit zehn uns anfangs fremden Menschen von Dakar in die Kapverden gesegelt und fasse ich die Ferien in wenigen Worten zusammen, lautet die Kurzfassung: Unter Erfahrung abbuchen.

Dass aus mir nie ein Seefahrer wird, wusste ich schon, bevor ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Auch war mir klar, als ich die «Fleur de Passion» erstmals im Hafen von Dakar vor Anker liegen sah, dass ich meine Komfortzone für eine Woche verlassen werde. In den vielen Papieren, die Marion und ich vor Reisebeginn zu unterschreiben hatten, stand auch drin, dass an Bord ein striktes Alkoholverbot besteht. Das schien mir, als ich noch festen Boden unter den Füssen hatte, eine gewisse Herausforderung zu werden. Umsonst! Ich werde in den nächsten Tagen heftiger schwanken, als ich es je unter Alkoholeinfluss tat. Und dass ich einer Tasse Tee einem Glas Bier den Vorzug gäbe, hätte Marion vor ein paar Tagen noch für unmöglich gehalten. Ich übrigens auch.

Nein ehrlich, ich hätte mich ohrfeigen können, diesen Aktivferien zugestimmt zu haben, als morgens um 2.45 Uhr der Wecker ruft, um mir mitzuteilen, dass meine Schicht, welche bis 6 Uhr morgens dauern wird, in 15 Minuten losgeht. Kaum aufrecht, knallt es mich, mit einem Bein im Pyjama verfangen, an die Kojenwand. Hier drinnen kann ich wenigstens nicht umfallen, geht es mir durch den Kopf, viel zu eng ist die Koje. Ich zieh mir die Schwimmweste über. Ihr leicht säuerlicher Geruch soll mich wohl auf das vorbereiten, was folgen wird.  Achtung festhalten. Die über 2m hohen Wellen, durch die sich die «Passionsblume» pflügt, fordern ihr Tribut auf dem Segelschiff. Ich bin erleichtert, meinen Sitzplatz neben dem Steuerruder erreicht zu haben. Schliesse die Augen, in der Hoffnung, dass so die Übelkeit etwas nachlässt, und warte, bis ich vom Skipper aufgerufen werde, das Steuerruder zu übernehmen. «Hey, seht ihr das Leuchten draussen im Meer?» ruft Amelie während sie hinter dem Steuerruder steht. Und tatsächlich, ein seltsam rosa funkelndes Licht strahlt im Ozean. Mitten aus dem Nichts. Das Naturspektakel, hervorgerufen durch Plankton, wäre wohl ein Highlight unseres Segelturns, hinge ich nicht bereits, mein Schicksal verfluchend, über der Reling.  Habe ich dieses Naturspektakel nicht schon einmal gesehen?,  geht es mir durch den Kopf. Und schaue in Gedanken «Ozeane» 3D im IMax Filmtheater des Verkehrsmuseum Luzern. Eintritt Fr. 16.- Kino, Komfortsitz inbegriffen.  Nach der Frühschicht freue ich mich wie ein Überlebender, dass ich mich in die Koje zurückziehen kann. Liegend erdulde ich den Segelturn am besten. An Lesen ist nicht zu denken, zu gross wird die Übelkeit. Zum Glück habe ich mir die Netflix-Serie « House of Cards » auf mein I-Pad geladen. War ich schon einmal so dankbar, für kurze Zeit der Realität zu entfliehen? Ganze 6 Stunden dauert meine Flucht. Dann holt mich meine Küchenschicht abrupt zurück in die Gegenwart. «Nahrungszubereitung unter erschwerten Umständen», trifft meine Erfahrung ziemlich gut: Alles was nicht fixiert wird, findet sich am Boden wieder. Irgendwann gehen mir die Fluchworte beim Rüsten der Zwiebeln aus. Ich zähle die Stunden doch es sind noch Tage. Dank idealer Windverhältnisse, wie Skipper Pere nüchtern feststellt, treffen wir zwei Tage früher als geplant in Mindelo ein. Alles im Leben hat seinen Preis - mein Glaubenssatz hat auch auf hoher See Gültigkeit.

Mit Seglergruss «Mast und Schottbruch» glücklich aus Dakar

Waldemar Krupski 

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Wenn Tränen mehr als Worte sagen

Muslimischer Friedhof, Dakar

Muslimischer Friedhof, Dakar

Mittags sitzen sie oft so zusammen. Aber jetzt ist es nicht Mittag. Es ist morgens um 9 Uhr, als unser Hauspersonal im Garten die Köpfe zusammensteckt.  Heute wird auch nicht gelacht und gekichert, wie ich es sonst gerne und oft höre. Heute ist alles anders.

„Il est décédé“ sagt Tanor, Papa von Mohammed Waldemar zu mir. Er ist gestorben.

Ich kannte ihn nicht, den Verstorbene, der Sohn von unserem Gärtner Diaw. Doch nein, es ist mir nicht entgangen, dass es Diaw nicht gut ging, dass er in den vergangenen Wochen traurig und niedergeschlagen war. Obwohl er mir immer sagte: „Ça va, ça va un peu bien“. Es geht, es geht, es geht so. Als es gar nicht mehr ging, erzählt er mir, dass sein Sohn einen Tumor im Kopf hat. Ça c’est dur, ça c‘est très dur. Ja, das ist schrecklich.

Der Tumor wurde hier in Dakar in irgendeinem Spital entfernt. Das Leid wurde so für ein paar Wochen gelindert, es gab Hoffnung, wenn auch nur für kurze Zeit. Heute Morgen um 8 Uhr ist er im Spital gestorben. Um 14 Uhr sitze ich, zusammen mit unseren Hausangestellten, teils auf Plastikstühlen, teils am Boden, mit 40 vielleicht auch 50 Männern in einem Vorort von Dakar. Ein paar Meter neben uns sitzen halb so viele Frauen im Kreis. Im Zentrum die Mutter des Verstorbenen. Einen Steinwurf weiter weg steht eine Moschee. Ich beobachte etwas verunsichert das Geschehen. Niemand weint. Einige der Männer beten. Andere beschäftigen sich mit ihren Handys. Die Frauen unterhalten sich oder sitzen stumm im Kreis. Der Vater des Verstorbenen setzt sich neben mich. Er bedankt sich, dass ich zusammen mit den Angestellten gekommen bin. Er erzählt mir von seinem Sohn, dessen Name ich bis heute nicht kenne. Ich glaube, er hat ihn auch nie genannt. Für mich ist er sein Sohn. Ein talentierter Basketballspieler. Gross gewachsen. Ein ausgezeichneter Schüler. Sein Sohn, der Träume als Basketballspieler träumte. 17 Jahre jung.

Nach einer guten Stunde des Wartens und Beobachtens stehen wir Männer auf. Bewegen uns Richtung Moschee. Die Frauen verharren sitzend im Kreis. In der Moschee stellen wir uns in Reihen hintereinander. Vor uns liegt der Leichnam in ein Tuch gewickelt am Boden. Der Marabu spricht das Totengebet. Für den frommen Muslim stellt der Tod nicht nur das natürliche Ende, sondern auch den Höhepunkt des Lebens dar. Nach gefühlten 10 Minuten haben wir die Moschee bereits wieder verlassen. Monsieur Diaw bedankt sich noch einmal für mein Kommen, während ich betroffen über seine Schulter schaue und sehe, wie der Leichnam auf einen Pickup geladen wird. Vielleicht ist mein Gesichtsausdruck der Anlass, dass Diaw meine Hand nimmt, die Menge zur Seite bittet und mich zu seinem Sohn bringt.  Dieser Moment ist etwas zu viel für mich. Der Höhepunkt des Lebens sieht für mich anders aus und ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten, im Wissen, das Männertränen hier nicht angebracht sind.

Diaw schliesst mich mit kräftigem Schulterklopfen in seine Arme und weint mit mir.

Und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass wir uns in nichts unterscheiden. Tränen sagen mehr als Worte.

Waldemar Krupski

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Mohammed Waldemar

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Bienvenue Mohammed Waldemar! Geboren am 14. Oktober 2018. Du bist ein Sonntagskind. Ein Sonntagskind wie auch ich, geboren am Sonntag, 22. Juli 1964. Uns Sonntagskinder wird nachgesagt, dass wir vom Glück besonders begünstigt sind. Stimmt. Zumindest für mich!

Ich erinnere mich genau an die Autofahrt, als Tanor, Dein Papa, mir sagte: „Wenn es ein Bub wird, wird er Mohammed Waldemar heissen. Mohammed, nach unserem Propheten, und Waldemar, nach meinem Patron“. Und als er es sagte, lachte er, so wie er oft lacht – herzhaft, schalkhaft, auf Augenhöhe. Ich war berührt, etwas verlegen. Auch verunsichert, wie ich darauf reagieren soll. Aber gefreut, gefreut habe ich mich mehr, als ich es ihm zeigen konnte. Ich mag ihn, deinen Vater, dieses Schlitzohr. Von ihm wird erzählt, dass er sich vor Jahren als Chauffeur bei der Botschaft beworben hat. Obwohl er ausser der Hupe wenig im Auto richtig bedienen konnte.  

Er hat es trotzdem geschafft, einen begehrten Job bei der Botschaft zu ergattern. Wenn nicht als Fahrer, dann halt eben als Hauswart. Das ist vielleicht weniger gefährlich, aber nicht weniger überraschend. Denn nein, ein Handwerker war dein Papa auch nicht wirklich. War, weil er in den vergangenen 1 ½ Jahren, in welchen wir fast täglich miteinander kleinere Arbeiten verrichten, einiges dazu gelernt hat. Und ich auch. Nicht zwingend korrektes Französisch. Das habe ich erst in den letzten Monaten gelernt, dass nicht immer Französisch ist, was französisch tönt.

Weisst Du, Mohammed Waldemar, Marion, meine Frau, hat nicht unrecht, wenn sie sagt: „ Ja, ja der Tanor, dein Chouchou.“ Ja, ich mag es, wenn ich ihn im Garten singen höre. Ich mag es, wie er anpackt, mitdenkt und sich für keine Arbeit zu gut fühlt. Ich höre ihm gerne zu, wenn er mir erzählt, dass sein Vater vier Frauen und 32 Kinder hat. Und ich glaube, er hört mir zu, wenn ich ihm sage, dass kein Gott will, dass ein Mann 32 Kinder zeugt. Du, Mohammed Waldemar, hast zwei Schwestern und eine Halbschwester. Vor ca. einem Jahr hat dein Papa sich eine zweite Frau genommen. Er erklärte mir damals, dass seine erste Frau, deine Mutter, zu viel schwatzt „Elle parle toujours, toujours!“. Mein Einwand, dass doch zwei Frauen mindestens doppelt soviel schwatzen wie eine und sich das Problem damit nur verschärfe, kam bei ihm nicht an. „Non, non, non. Tu ne comprends pas, patron.“, schüttelte er den Kopf.

Nun bist du sein  erstgeborener Sohn. Sonntagskind und hast einen Toubab (ein Weisser) als „Götti.“  Kein schlechter Start.

Vielleicht macht das den Unterschied. Den Unterschied, dass du dereinst vielleicht eine Schule besuchen kannst. Eine Schule, wo du lesen und schreiben lernst. Wo du verstehst, wie unverantwortlich es ist, 32 Kinder auf die Welt zu stellen, für deren Weiterkommen Mann niemals sorgen kann. Um zu verstehen, dass Armut und Gleichstellung der Frauen einen direkten Zusammenhang haben. Und diese Hoffnung ist es, die mich losschickt, dich mit einem Geschenkkorb willkommen zu heissen und dich mit einem Auge zu begleiten. Und natürlich die Freude an der Ehre, dein Namensvater und Götti zu sein!

Bonne chance, Mohammed Waldemar!

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Wiä g’hats in Dakar

Wir alle kennen es: Wird man oft das Gleiche gefragt, wird man des Antwortens müde. Eine Floskel mit dem Ziel, sich kurz zu halten, kann vermeintlich helfen. Das tönt dann etwa so: « Hoi Waldemar, wiä g’hats in Dakar? Hend iär üch güat i gläbt»? «Dankä, äs ghat üs allnä guät. Dr Honeymoon isch over»! Fazit: Der zweite Satz taugt nichts, will ich mich kurz halten. Eigentlich logisch. Stattdessen löst er beim Gegenüber meist ein Nachfragen aus. Manchmal gelingt es mir, die Aussage mit ein paar wenigen Worten zu präzisieren. Oft aber bleibt ein unbefriedigendes Gefühl des nicht-verstanden-worden-seins zurück.

Hier ein Erklärungsversuch:

In den ersten Monaten war Dakar aufregend unbekannt. Unvorhersehbar, überraschend, farbenfroh. Mir ging es gut. Nicht einmal einsam fühlte ich mich, auch wenn ich mich kaum verständigen konnte. Wenn während der Regenzeit die Gipsdecke in unserem Haus herunterfiel, weil es ihr einfach zu nass wurde, nahm ich das ohne grossen Ärger zur Kenntnis. Das gleiche gilt für die undichten Fenster. Es erstaunte mich, wenn unsere Gouvernante, der ich blindlings vertraue, mir mit ernster Stimme zu erklären versuchte, dass ich den Tee vom Koch nicht trinken solle, weil er vergiftet sei. Getrunken habe ich ihn trotzdem. Und weder Bauchschmerzen noch Visionen bekommen. Als der «Hauswart» den Türgriff senkrecht statt waagrecht montierte, zeigte ich mich geduldig. Ich führte ihn durchs Haus und bat ihn, mir doch senkrecht montierte Türgriffe zu zeigen. «N’existe pas» sagt er nach einer Weile». «Oui, n‘existe pas» bestätigte ich ihm. Gemeinsam montieren wir den Türgriff wie es sich gehört. Er nahm es ungerührt zur Kenntnis.

Und heute? Heute, nach einem Jahr Dakar, bin ich in vielerlei Hinsicht etwas ernüchtert. Mir ist die Romantik vom Sprichwort «es braucht ein Dorf um ein Kind gross zu ziehen» abhanden gekommen. Heute sehe ich ein Dorf, wo sozialer Druck, Neid, Missgunst und Aberglauben einen nicht unwesentlichen Teil der Gemeinschaft bestimmen. Wer etwas erreicht, erweckt sofort Begehrlichkeiten. Die erweiterte Verwandtschaft erhebt rigide ihren Anspruch. Wer es verwehrt, alles zu teilen, riskiert verstossen zu werden. Nicht selten werden diejenigen, denen etwas gelingt, eines Pakts mit einer höheren Macht bezichtigt. Denn nur so ist sein Erfolg zu erklären. Eigenverantwortung und Fleiss werden so zu zwiespältigen Tugenden mit manchmal unabsehbaren Folgen.

Ein anderes Bild prägt meine Erinnerung an dieses einst idealisierte Dorfleben. Ich sehe Mädchen, fünf, sechs Jahre jung. Sie tragen Brennholz, sie tragen Wasser, sie tragen ihre noch kleineren Geschwistern bereits auf dem Rücken. Und ich sehe kleine Buben. Sie sitzen herum. Sie spielen Fussball. So wie es die grossen «Buben» ihnen vorleben. Und sie werden dereinst das Sagen haben. Die, die arbeiten und die Kinder gebären, werden «geachtet und respektiert» solange sie das tun, wofür sie aus Sicht der Buben geboren sind.

Ich merke, das Geschriebene greift zu kurz um «dr Hooneymoon isch over» zu erklären. Vielleicht sage ich besser; vor den langen Ferien war ich etwas ratlos und mir fehlte die Demut die Ratlosigkeit zu ertragen.

Nun, wieder zurück in Dakar höre ich oft: «Monsieur Waldemar, le vacances passé bien?» «Qui, es war eine sehr schöne Zeit zu Hause. Und es ist auch schön wieder hier zu sein!» Und schon ist es wieder da, dieses herzhafte lachen. Und ich stehe mitten drin in diesem farbenfrohen, chaotischen treiben, welches ich nie annährend verstehen werde…

Ich grüsse herzlich aus Dakar und freue mich auf das nächste mal, wenn es wieder heisst: «Und wiä ghats üch in Dakar»

Waldemar

Gestern lockte noch die Badi in Flüelen. Heute die Wellen am Strand von Dakar.

Da ist noch Luft nach oben …

„Das isch dr Hammer, geil, super Sach!“ Meine Frau Marion, Janina und Nikolai, wir alle sind begeistert vom neuen Angebot der Skiarena  Andermatt. Im Zufahrtstunnel zum Nätschen lächeln uns Bernhard Russi und Louis Van Gaal an: „Wir haben auch Eine“, werben sie. Sympathisch. Wir hätten auch gern Eine. Eine Gotthard Residence.

Wie hat sich Andermatt in den vergangenen Jahren gewandelt! Ich erinnere mich, als die Oberländer uns Unterländer das Gefühl vermittelten, sich bei ihnen bedanken zu müssen, dass wir auf dem Gemsstock skifahren dürfen. Oder als selbst weit angereiste Wintergäste abends wieder das Weite suchten, um am nächsten Tag die gleich lange Strecke wieder unter die Räder zu nehmen. Wir alle kamen alle Jahre wieder. Wegen dem Berg, selten, vielleicht auch nie, wegen der Gastfreundschaft in Andermatt. Damals gaben Kaserne und Festung genügend her. Diese dem Vaterland dienende Kundschaft war pflegeleicht und anspruchslos. Gäste brauchte Andermatt damals nicht. „Ich wischä ä schönä Tag“ sagt der Kabinenführer heute, während er die Türe der Gemsstockbahn öffnet. Und der Gast hat das Gefühl, er meint es genauso. Wer heute in Andermatt nicht verweilt ist selber schuld.  Schön, dass es dich gibt, Andermatt!  

Und trotz aller Begeisterung, es gibt Luft nach oben. Zum Glück atmen diese Luft nur die allerwenigsten Gäste ein. Marion musste sie leider einatmen. Es ist dumm gelaufen, Pech gehabt. Vielleicht war sie mit dem Testski etwas übermütig unterwegs. Der Ski bereitet ihr trotz schlechter Sicht viel Spass. „Er greift, er ist schnell und dreht schon fast alleine“, resümiert sie noch vor der letzten Talabfahrt. Der Sturz kommt aus dem Nichts. Ich ahne nichts Gutes, als Marion ohne sichtbare Regung den Hang hinunter rutscht und bin schon erleichtert als sie mein Zuruf „ghat’s?“ erwidert mit „Nein“! Bei ihr angekommen, sehe ich ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Marion klagt über sehr starke Schmerzen in der Schulter. Der linke Arm ist regungslos.  Die sichtbaren Prellungen und der blutende Kopf spürt sie offensichtlich nicht. Ein hilfsbereiter einheimischer Skifahrer hat die Nummer vom Pistendienst gespeichert. Schnell ist der Patrouilleur zur Stelle. Ruhig und sehr kompetent wird die Situation analysiert. Wegen dichtem Nebel ist eine Bergung mit dem Helikopter unmöglich. Noch bevor Marion auf den Schlitten kommt, wird ein Krankenwagen angefordert.  „Das kann dauern, der Krankenwagen muss von Altdorf kommen,“ sagt der Patrouilleur entschuldigend. „Das Militärspital wurde aufgehoben, der Krankenwagen des Gesundheitszentrum Andermatt ist nicht verfügbar und einen Arzt auf Abruf für Skiunfälle gibt es so nicht.“ Will heissen, auch wenn Marion um ein Schmerzmittel fleht, sie muss warten bis die Ambulanz von Altdorf in Andermatt eintrifft.  Jetzt fühlen sich Minuten an wie eine Ewigkeit. An einen Transport mit dem eigenen Auto ist nicht zu denken, der Arm steht ab. Marion zittert am ganzen Körper. Bei der kleinsten Berührung von ihrem Arm schreit sie vor Schmerz.  Die Situation ist für alle schwierig auszuhalten. Und für meine Frau über eine viel zu lange Zeit eine schmerzhaft Zumutung. Nicht nur gefühlt, auch in Wirklichkeit dauert es eine Ewigkeit bis der Krankenwagen endlich eingetroffen ist.

Der Unfall ereignete sich ca. um 15.00 Uhr. Ca. um 18.30 Uhr wurde im Kantonsspital Uri die Schulter wieder eingerenkt. Dazwischen liegen 210 schmerzhafte Minuten. Das ist viel zu lange! Ich bin mir bewusst, es ist ein hoher Anspruch den ich hier geltend mache. Auch verfüge ich über keine Detailkenntnisse, warum es so ist, wie es ist. Trotzdem denke ich: Wenn Andermatt das St. Moritz von morgen sein will, sehe ich hier Handlungsbedarf.

Übrigens: Zwei Tage später zeigt das MRI, das die Schulter nicht nur ausgerenkt war, sondern auch gebrochen ist. An eine Rückkehr nach Dakar ist vorläufig nicht zu denken.  

Mit Gruss aus Dakar – Andermatt, wir kommen wieder.